1. Die Oma ist konstant auf Diät und isst eigentlich nur ungesalzene Kartoffeln. Für die Oma macht das Sinn so. Salz macht dick, sagt die Oma, genau wie der Zucker oder die Butter; das weiß sie, auch wenn sie nicht erklären möchte warum. Bratkartoffeln sind der Oma‘s Kartoffels Lieblingsform. Beim Kochen, in der Nussbaumküche mit abgesenkter Arbeitsplatte, erzählt die Oma meistens davon, dass ihre Schwester, die Marianne, sie aufgezogen hat. Ihr das Kochen und das Teilen beibrachte. Wir wissen alle, dass das so nicht stimmen kann; die Schwestern wurden getrennt als die Oma noch nicht mal eins war.Die Oma ist kein Kind der weißen Jugend, aber auch kein Teil der roten Armee. Wenn‘s ums Erdäpfel waschen geht, ist die Oma extra gründlich, in der rechten Schublade liegt die dafür vorgesehene Bürste; in der darunter das Küchentuch auf dem sie trocknen; die Oma sagt, wenn man die Schale abschneidet ist das Essen nichts mehr wert. Die Kartoffeln hat sie aus dem eigenen Garten der eigenen Laube. Die Bodenschätze der Oma sind eine Liberalität aus der Benutzung von immer wechselnder Erde. Sträucher gab es überall an der Ostfront. Braunen Boden auch. Die Oma sagt beim Schrubben der Erdfrüchte meist nicht viel, und wenn dann ist es, dass der Dreck es ist, der weg muss, nicht die Fremdheit. Nie gleicht eine Kartoffel der anderen. Wenn sie nicht kochen will, fährt die Oma mit dem Fahrrad zum Dönerladen und kauft sich einen Dürüm (aber ohne Zwiebeln; die schneidet sie selbst daheim rein). Die Marianne behauptet ebenfalls die Geschwister aufgezogen zu haben und für die anderen acht stimmt das auch. Die Marianne spricht von Schlesien, wenn sie mal vom klein sein erzählt; dabei hat sie die gesamte Zeit ihrer Kindheit damit verbraucht nach Ungarn zu laufen. Dort, im zerfallenen Hof der ungarischen Familie, ist die Mutter noch einmal schwanger geworden (mit der Oma), vierzehn Jahre nach dem ersten Kind (der Marianne). Zwei Drittel des Regimes verbrachte ihre Mutter gebäucht, gebar insgesamt neun Nachkömmlinge. Das Leben war ein Loch in der Wand durch das Kinder krochen. Als die Marianne ihre Periode bekommen hat stehen die Russen drin. Das Tomatenfeld vorm Haus verwüstet, das Haus selbst verwüstet, dazwischen: Blut, Eisen, braune Erde. Das Resultat ist, dass die Marianne am Arm der hochschwangeren Mutter noch ein weiteres Mal durch Europa rennt. Zurück, dahin wo man sie verscheucht hat. Die Oma sieht die Sonne das erste Mal durch die Kronen eines Waldes. So ganz genau weiß die Oma nicht an welchem Tag sie geboren wurde, aber ihre Mutter hat für sie den 13. August gewählt, einen Freitag. Später einmal, mit fast achtzig, sind die Oma und die Marianne ins heutige Ungarn gefahren um die Geburtsurkunde abzuholen die Mutter der Oma sollte recht behalten, lange nach ihrem Tod.
2. Zum Kriegsende 1945, nach sieben Monaten im Regen, steht dann das ganze Pack vor der neuen deutschen Grenze: die Mutter von der Oma mit dem Ehemann, drei Großeltern (zwei von der Mutter, einer vom Mann), sechs Kinder. Eine ungewollte Flucht in den zerstückelten Westen, Seperation, Division, kein Willkommen. Der Bruder Rudolf ist auf dem Weg umgekommen, soweit weiß die Oma das, irgendwer anders schon davor, Stillschweigen, eine ist krank geworden. Nach der Oma gab es nur noch eins, die Evi. Beim Überschreiten der neuen deutschen Grenze sind es nur noch fünf Kinder; das Größte hat man ihr abgenommen, auf einen Münchner Hof zum arbeiten geschickt, und dem Rest, im Austausch, die Baracke gegeben. Die Baracke war nicht mehr als ein Holzverschlag mit vier kleinen Fenstern; einen halben Raum für fünf Schwestern; einen halben für fünf Erwachsene.Die Oma sagt nie hat sie wo so gefroren wie in der Baracke. Sagt, dass die Wände so dünn waren, man hat durch sie den Wald husten hören, und des Waldes Kinder riechen können. Nachts friert die Oma trotz der Wolldecke, sagt sie, sagt, dass sie die Decke mit den zwei Schwestern, der Greti und der Kathi teilen musste. Unter der Decke haben sich die Mädchen immer Geschichten erzählt von den Fetzen die sie noch im Kopf hatten. So recht sprechen kann keine, weder deutsch noch ungarisch. Sie reden von Sachen die die Oma selbst nicht kennen kann; tauften die Deutschen in den Schauergeschichten Wölfe und die Russen Bären. Vor beiden muss man sich verstecken, hat die Kathi immer gesagt. Die Oma versteht davon nichts und trotzdem lassen die Geschichten den Winter weniger hart wirken weil jede Erzählung mit Apfelblüten endet. Apfelmus wusste die Kathi schon als Kind zu kochen. Manchmal ist es der Oma zu viel geworden mit den Schwestern und dann hat sie statt der Kathi der Mama zugehört. Die Erwachsenen reden über Anträge und Verträge, über Arbeit und darüber, wo sie hinwollen, wenn sie dürfen. Die Oma versteht die Wörter nicht, aber sie versteht dass es alle sind, die frieren. Erst mal ist keins der Kinder in die Schule gegangen, weil die zu weit weg war. Alles war weit weg vom Wald aus. Irgendwann hat jemand der Familie mal ein Radl geschenkt, und als der Großvater einmal krank war, sind die Oma und er mit dem Zelt nach München geradelt, die Oma auf dem Lenker. Da war die Oma vielleicht fünf. Fünf Tage weg von der Baracke. Nach dem Arzt haben die Oma und ihr Großvater die Marianne besucht, aber nicht mitgenommen. »Die ist jetzt erwachsen.« Zurück in der Baracke war alles wieder beim Alten. Statt in die Schule zu gehen haben die Mädchen dem Vater geholfen Pilze zu sammeln. Die Schwestern waren seine Suchschweinchen. Die Oma lernt früh, den Atem anzuhalten. Jeden Samstag sind sie zwei Stunden ins Dorf gelaufen und haben sie für Metallgeld verkauft, sind mit Mehl und Salz zurückgerannt. Die Oma geht auch mit achtzig noch gerne Pilze suchen, weil das für sie heißt in den Forst zu fahren und dort die Grenzen der Baracke abzulaufen. Heute ist da nicht mehr viel, außer den Resten eines Brunnens im Sonnenausschnitt des Waldes. Wenn man am linken Eck der Wiese steht und auf die zwei vermoosten Ziegelsteine schaut, liegen ihre Großeltern irgendwo hinter dem Wasserloch. Die Mutter dagegen haben sie woanders eingegraben, die Oma erinnert sich aber nicht wo.
3. Die Familie verlässt die Baracke Ende der Fünfziger, kurz darauf, mit sechzehn, heiratet die Oma das erste Mal. Die Oma redet nicht über den Polen, er verschwand Mitte der Sechziger als sie gerade einmal 21 Jahre alt war und vermachte ihr drei schwarzhaarige Söhne, zwei, drei und vier Jahre alt. Er ließ ihr keinen Pfenning und von sich selbst keine Spur. Die Oma fängt deshalb an in einer Handschuhfabrik zu arbeiten, lernt nähen und ziehen, beschwert sich nie. Wenn die Oma in der Arbeit ist bleiben die Kinder allein zuhause, manchmal schaut die Mutter der Oma nach ihnen, aber nur bis die Kinder in die Schule gehen, danach salzt der älteste das Essen der kleineren. Die Fabrik in der die Oma arbeitet riecht nach Leder und Maschinenfett, nach dem Schweiß von vierzig Frauen in einem fensterlosen Raum. Um halb sechs morgens stehen sie vor den Toren, alles Frauen wie die Oma, mit verschwundenen oder verrückten Männern, manche hatten jene die nicht zahlen konnten. Die Gummihandschuhe kamen in Teilen an, fünf Finger, ein Daumen, ein Handrücken, alles zum Zusammennähen. Zehn Stunden täglich, sechs Tage die Woche, zwölf Paar Handschuhe pro Stunde, sonst war der Lohn gekürzt. Die Oma lernt schnell wenn‘s ums Geld geht auch wenn sie nicht rechnen kann. Ihre Finger waren schmal und präzise, und sie sprach nicht mit den anderen Frauen während der Arbeit. Am Anfang waren ihre Hände rissig vom Leder, aber sie hatten sich an die Nadel gewöhnt, an das Ziehen des Fadens über der Haut, an die Präzision die ihr mehr Gehalt einbrachte. In der Mittagspause aß sie ihr Butterbrot alleine, schaute den anderen zu, wie sie über ihre Männer schimpften oder über die Preise im Laden. Der Osten steckte der Oma sichtlich in den Fingerkuppen, und wenn sie an die Deutsche dachte, dann blieb ihr Mund geschlossen. Die Oma hatte nichts zu sagen zu Männern, die noch da waren und deshalb sagte sie nichts. Die Oma entwickelte eine Posture beim Nähen, leicht nach vorne gebeugt, die Schultern eingezogen, als würde sie sich vor etwas schützen. Ihre Haltung hat die Oma aus dieser Zeit.
4. Die Marianne hat sich manchmal mit einem Brief bei der Oma gemeldet. Durch den Tod ihrer Bauernherrn kam sie an ein Grundstück in der Mondscheinsiedlung, hat sich ein Häuschen und ein Zweites gebaut. Närrisch war sie nie. In Omas Verständnis ist die Schwester eine edle Dame, eine Frau zu der man aufblickt. Die Marianne ist als reiche Frau gestorben. Manchmal besuchten wir sie in ihrem Allacher Appartement, es gab jedes Mal Nudeln mit Päckchensaucen. Sie servierte nie Nachtisch aber literweise Filterkaffee. Die Schwester wurde 93. Die beiden, die Oma und die Marianne, hatten sich eine Routine erarbeitet an die sie sich hielten auch wenn sie sich praktisch nie sahen: erst gab es Schmetterlingnudeln, dann wurde am klapprigen Esstisch Kaffeesahne und Süßstoff in die Tassen gekippt bis die Arme wackelten. Der Tisch steht bei der Marianne im Flur, in einer ganz seltsamen Ecke ohne Tageslicht, obwohl in der Küche genug Platz wäre. Da am Tisch reden die Schwestern von zu hohem Blutdruck; von den missratenen Söhnen (bezogen auf die Oma), dem Lorbeerkranz, dass Süßstoff keine Kalorien hat, zum Glück, dass die Tomaten schon wieder zu früh blühen; reden von der Kathie. Ein ewig gleiches Duett aus unterschiedlich gefärbten Tanzschritten. Jetzt, wo die Marianne tot ist, hat die Oma nur noch die Kathie, aber die Kathie ist ständig mit dem Jürgen beschäftigt, hat, wenn überhaupt, Zeit für einen Telefonanruf. Der Tod der Marianne kam ohne Vorwarnung, obwohl es zu erwarten war. Einen Dienstag rief der einzige Sohn an, mittags, als die Oma gerade ihre Kartoffeln schälte. Die Stimme am Telefon war freundlich. Die Oma legte den Hörer auf und schaute auf die halbgeschälte Kartoffel in ihrer Hand. Sie beendete das Schälen, kochte die Kartoffeln, aß sie ungesalzen, wie immer. Erst danach rief sie die Kathie an. Zur Beerdigung trug die Oma die schwarze Hose, das sie vor zwanzig Jahren für den Opa gekauft hatte. Die war ihr zu weit, aber es war das einzige Schwarze, das sie besitzt. In der Kirche saßen etwas mehr als zwanzig Leute, die Kathie mit dem Jürgen, die Oma, vier Nachbarn aus der Mondscheinsiedlung, und die Oma fragte sich, wieviel später wohl mal zu ihrer eigenen Beerdigung erscheinen würden. Der Pfarrer sprach von einem erfüllten Leben, von der Liebe zu Gott und zur Familie. Die Oma hörte nicht zu, weil sie von Gott nicht viel hält und vom Pfarrer schon gleich gar nicht. Sie schaut stattdessen auf den Sarg und dachte daran, wie die Marianne ihr gezeigt hatte wie man die Läuse zerdrückt, zwischen den Fingernägeln, damit sie nicht wiederkommen. Nach der Beerdigung fuhren die Kathie und der Jürgen sie nach Hause obwohl das für sie zwei Stunden Umweg bedeutete. Die Kathie weinte, der Jürgen schwieg höflich. Die Oma hält nichts vom Jürgen; sagt er sitze nur faul auf der Tasche seiner Frau. Dabei kocht er, hat Humor; lebt noch. Der Jürgen hat nie getrunken und darum bleibt die Kathie bei ihm. Puzzelt, wenn es sein muss. Die Oma findet das alles lächerlich, aber jetzt hören die Ohren von der Marianne sie nicht mehr und zu wem anderes sagen tut sie nicht. Die Oma besuchte die Marianne, nie aber die Kathie, und die Kathie besuchte die Oma mit dem Jürgen nie aber der Marianne, das war schon immer so, obwohl die Kathie nur zehn Minuten von der Marianne entfernt wohnte. Die Kathie arbeitet noch; obwohl sie schon 84 ist. Auch davon hält die Oma nichts. Früher fuhr die Oma öfter nach München, später, als der Opa tot war, nahm die Oma den Zug. Heute, wenn überhaupt, fährt die Enkelin der Kathie sie und ihrem Mann in den Süden, lädt die beiden bei der Oma ab für einen Nachmittag. Der Oma ist das nicht zu viel, aber sie tut so als wäre es das, damit die beiden nicht zu lange bleiben. Wenn sie mit der Kathie telefoniert, sagt die Oma nur »Aha.« und »Ja, ja«. Den Rest denkt sie leise. Der Oma ist alles zuwider, was weich und organisiert ist. Zuhause angekommen stieg die Oma aus, sagte Tschüss und ging in die kleine Wohnung im ersten Stock. Sie setzte sich an den Küchentisch und schaute aus dem Fenster ins gegenüberliegende Wohnungzimmerfenster, wo die Irmi wohnte. Das Licht brannte, aber sie rief nicht an. Die Marianne hat der Oma nach ihrem Tod nichts vermacht.
5. Die Irmi wohnt auf der anderen Seite des Spielplatzes, auf selber Höhe, und wenn die beiden streiten bleibt das Licht in der Küche der Oma ausgeschalten, damit die Irmi nicht sieht, dass sie zuhause ist. Wenn die beiden sich verstehen, stehen sie am Fenster und reden über das Telefon, versuchen sich in der Ferne zu erkennen. Die Irmi ist starke Raucherin, deshalb hat sie sich ihren Schuppen ausgebaut, dort ist auch die Oma wenn sie nicht ins Gartenhaus fährt. Die Imri, so sagt die Oma, die hat alles richtig gemacht und nie geheiratet. Und dann, wenn sie zerstritten sind, dann sagt sie, dass die Irmi eine arme Schluckerin ist und zu viel trinkt.