Die gelbe Familie

Leseprobe

Die Großmutter ist Zigeunerin und nichts hasst sie mehr als die Zigeuner.
Eine Stimme erreicht man in der Opposition in meinen Augen nur durch Akademie. 
Oder durch Literatur.

1.
Die Oma

Die Oma isst eigentlich nur ungesalzene Kartoffeln, weil sie ständig auf Diät ist.
Für die Oma macht das Sinn so. 

Während sie ihre Kartoffeln kocht, sagt die Oma meistens, dass ihre Schwester, die Marianne, hätte sie aufgezogen. Das kann so aber gar nicht stimmen, weil man die Schwester eingezogen hatte als die Oma noch nicht mal eins war.

Die Oma mag neben Kartoffeln auch Tomaten. Sträucher gabs überall an der Ostfront.

Die Marianne spricht von Schlesien wenn sie mal vom Kind sein spricht; dabei ist sie  ihre ganze Kindheit nach Ungarn gelaufen.

Als die Marianne ihre Periode bekommt, stehen die Russen im Tomatenfeld vor Provisorium. Und so rennt die Marianne mit der hochschwangeren Mutter ein weiteres Mal durch Europa, auf dem Weg gebährt wird die Oma auf die Welt geworfen; und irgendwann ‘45 steht das ganze Pack vor der Deutschen Grenze; die  Mutter von der Oma mit dem Ehemann, drei Großeltern (zwei von der Mutter, einer vom Ehemann) und sechs Kindern. 

Die Größeren hat man ihnen abgenommen und dem Rest, im Austausch, die Baracke gegeben. Einen halben Raum für fünf Schwestern; einen halben für fünf Erwachsene. „Davor“ waren es mehr Nachkömmlinge, hat mal irgendwer gesagt. Der Bruder Rudolf jedenfalls ist auf der Deutschlandreise ungekommen, irgendwer anderes schon davor, eine ist an Krankheit gestorben. 

Marianne, das Älteste der Kinder, hatte man in einen Münchener Hof gesteckt.

Später kam sie an ein Grundstück in der Mondscheinsiedlung, hat sich ein Häuschen und ein zweites gebaut. In Oma‘s Verständnis war die Schwester eine edle Dame, eine Frau zu der man aufblickte, weil die Marianne als reiche Frau gestorben ist.

Manchmal besuchten wir die Marianne in ihrem Allacher Appartment. Es gab ausnahmslos jedes Mal Nudeln mit Päckchensoßen. Sie servierte nie Nachtisch aber literweise Filterkaffee.  Die Schwester wurde 97. 

Die beiden, die Oma und die Marianne, hatten sich eine Routine erarbeitet an die sie sich hielten auch wenn Dekaden dazwischen lagen: erst gab es Schmetterlingnudeln und dann wurde am klapprigen Küchentisch Kaffeesahne und Süßstoff in die Tassen gekippt bis die Arme zitterten. 

Der Tisch stand im Flur, in einer seltsamen Ecke ohne Tageslicht, was nie jemanden störte. Die Schwestern redeten von zu hohem Cholesterinspiegel; vom Sohn .. der Lorbeerkranz, ein neuer Tanz.

Als der Opa noch lebte, fuhren die Großeltern mit dem alten Mercedes den er sich von seiner Industriearbeit geleistet hatte, später, als der Opa tot war, nahm die Oma den Zug.

Die Marianne hat der Oma nach ihrem Tod nichts vermacht. 
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Die Oma geht gerne Pilze suchen, weil das für sie heißt in den Forst zu fahren und dort die Grenzen der alten Baracke abzulaufen. 

Heute ist da nicht mehr viel, außer den Resten eines Brunnens im Sonnenausschnitt des Waldes.

Wenn man am linke Eck der Wiese steht und auf die vermoosten Ziegelsteine schaut, liegen ihre Großeltern irgendwo hinter dem Wasserloch. Die Mutter dagegen haben sie woanders eingegraben, die Oma erinnert sich aber nicht wo. Als Kind hat das alles für mich keinen Sinn gemacht, und als Erwachsene bin ich nie wieder dort gewesen. 

Bald gibt‘s keine Schwammerl mehr, sagt die Oma seit zwanzig Jahren und es werden tatsächlich immer weniger. Wir könnten auch woanders Pilze suchen gehen; aber da gibt es ja keine nicht vorhandene Baracke. Drum suchen wir ohne Erfolg in der Dunkelheit der Lichtungen und fahren dann anschliessen zum Edeka, suchen dort weiter.

Ihre Ehemann hat ihre Suppen nie gegessen, hat gesagt die Oma würd ihn damit nur vergiften. Ich habs daran nie gezweifelt und meinen Teller trotzdem gegessen. Die winzige Großmutter ist einschüchternd, das ist das Ding. Es machte sie nicht weniger furchteinflößrend, dass sie ihre Kleidung in der Kinderabteilung kaufte.

Lang haben die Mutter und ich geglaubt, die Oma könne nur ihren eigenen Namen schreiben und sonst nichts, stellt sich aber heraus: stimmt gar nicht. Sie hat nur alles ihren zweiten Mann machen lassen, bis der am Lungenkrebs erstickte. Er hat das Schreiben und sie das kochen übernommen. 

Großes Glück hatte der Großvater allerdings nicht mit dem Essen, die Oma hat das Kochen von der Marianne während der sogenannten Aufzucht gelernt nehme ich an, denn auch auf ihrem Essenstisch stehen Nudeln und Päckchensoße - und ein Teller Kartoffeln für sie selbst. 

Es war jeden Tag das selbe, abhängig vom Wetter ging ich nach der Schule entweder zu ihrem kleinen Apartment im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses oder zu ihrer Gartenlaube. Ich habe diesen Ort nie als ihren gefühlt, bis zu dem Moment als ihr Ehemann tot war.

Die Gartenlaube war der ganze Stolz der Großeltern, der Opa hat sie von der Firma bekommen, wie alle anderen Fabrikarbeiter. 

An meinem Geburtstag hatten sie einen Apfelbaum neben dem Eingangstor mit Hühnerklingel gepflanzt, der auch nach dreißig Jahren nur missraten kleine Äpfel abwirft. Die Oma bringt die fauligen Äpfel zum Saftpressen, und jedes Jahr beschwert sie sich darüber, weil zu schwer, zu wenig Saft.

Die Mutter hatte die Oma eigentlich immer gehasst, aber als der Opa erstickte, da hat sie sich der eigenen Mutter etwas angenähert, gedanklich und optisch. Vielleicht ist es aus purer Angst geschehen.

Heute sprechen die beiden nahezu ununterbrochen mitenander; leben (zu) nah, riechen nicht nur den Geruch des anderen, aber atmen die selbe Luft. Man kann es ihnen nicht verübeln, denn dort wo sie leben, da ist der immer selbe Wind.

Die Oma, im Vergleich zu den anderen Nachbarinnen, hatte ihr eigenes Kellerabteil, was sie immer Stolz machte. In dem Kellerabteil bewahrte die Oma ihren Lebensvorrat an gelben Küchenlappen, wie sie sagt: „Küchenlappen braucht man immer; und wenn ich weiß wie lange ich lebe, dann weiß ich auch die Anzahl der Küchentücher.“ Sie hatte sie im Sonderangebot erstanden und da gibt es genrell wenig zu diskutieren.

Lüge und Gedicht; die Oma hätte sie nie so transparent präsentiert.

Die Oma besitzt zwar einen eigenen Geldbeutel, den benutzt sie aber erst seit der Opa erstickte. Jedenfalls, seit sie den Geldbeutel nicht nur besitzt sonder auch benutzt, ist die Oma deutlich ärmer, als sie sich immer schmückte.

Wenn die Oma zum Essen einlädt, dann ist das Trinkgeld nicht mehr als 20 Cent und es ist gleich wie viel das Essen gekostet hat. Die Oma argumentiert das immer mit der allgegenwärtigen Beschaffenheit des Kellners.

Bevor die Oma den Opa geheiratet hat, war sie schon einmal verheiratet. 

Der erste Ehemann, ein Pole, verschwand als die Oma gerade einmal 21 Jahre alt war, was dazu führte, dass die Mutter und ich zwei Dekaden Witze machten, sie hätte ihn umgebracht. Die Brüder der Mutter haben uns immer dafür verurteilt, aber dann, wenn sie genug getrunken hatten, dann schien es auch für sie möglich. Wie alt der Pole zu dem Zeitpunkt der Hochzeit war war weiß ich nicht, ist aber auch denke ich nicht wichtig.

Die Oma hatte drei Kinder vom Polen, eins mit siebzehn, eins mit achtzehn und eins mit neunzehn. In ihrer Geschichte war nur eins ein Bastard.

Die Kinder vom Polen hatten alle schwarze Haare, grüne Augen, den selben Nachnamen (...), was später zur Gruppenbildung führte. 

Als die Oma dann alleine war, ist sie in den Süden gezogen und hat angefangen in einer Handschuhfabrik zu arbeiten. Sie muss genug gehabt haben, vom Schlesischen Einfluss. Auch wenn sie wortgewandt über ihre Arbeitszeit spricht, nur so lange, bis ihr der Opa über den Weg lief; drei Jahre um genau zu sein. 

Lange hat es nicht gedauert, bis sie sich wieder hauptberuflich der Päckchensauce gewidmet hat, nur so lange, drei Jahre.

Vor zwei Jahren kam dann ein Brief: Der Pole tot in Polen. 
Die Oma hat ihn offenbar doch nicht vergiftet.
Sie hat aber auch sonst nicht viele Worte verloren.

Schlesien steckt ihr in den Fingerkuppen, und vielleicht denkt auch sie, dass die Deutschen einfach leise sind. Heute hält die Oma meistens ihre Klappe, und deshalb mag man ihr nachsagen, dass sie nichts zu sagen hat. Vielleicht hat sie sich selbst aber auch einfach nur eingedeutscht. Es liegt jedenfalls nicht daran, dass die Oma sich ans Schweigegelübte hält.

Der Geburtstag von der Oma wird jedes Jahr in der Gartenlaube gefeiert, weil sie im Sommer geboren war, die Oma. So ganz genau weiß sie nicht an welchem Tag, aber ihre Mutter hat für sie den 13. August gewählt, einen Freitag. 

Die Oma hat nicht anders werden können.

Später später, mit fast achtzig sind die Oma und ihre älteste Schwester nach Ungarn gefahren um die Geburtsurkunde abzuholen und stellte sich heraus, auch das Ungarische Einwohnermeldeamt datierte eben jenen Tag, was die Mutter der Oma entschuldet.

Die Mutter und ich sind vielleicht einfach vom Teufel getrieben.

(....)

Die Oma war immer pingelig mit den Geschenken die Leute ihr machten. Das liegt nicht daran, dass die Oma eine schlechte Geschenkenschenkerin ist (ganz im Gegenteil), viel mehr ist die Zigeunerin abzulesen, die mit ein jeder Sache die sie ihr Eigen nenne musste ein kleines Päckchen mehr nicht zu verdienen schien.

Ohne Karavan, die waren zu dem Zeitpunkt bereits stimatisiert in Europa.

Die Oma trägt nicht viele Meinungen; zumindest teilt sie diese nicht, manche würden sagen sie hege keine schlechte Meinung über niemanden, außer über die Reisenden ohne festen Wohnsitz und sie, sich selbst.

Die Großeltern lesen Zeitung, damit jeden Morgen für die Nachbarn sichtbar die Zeitung auf der Wohnungsmatte liegt. Eine Erinnernug die sich eingebrannt hat ist das Klatschblatt und seine Tittenbilder-Rückseite wie es die Hausmatte der Großmutter verdeckt. Die Oma bestellt die Bild, der Opa liest daraus nur den Fussballteil; schaut die Tittenbilder an.

Jeden Morgen sitzen beide am Küchentisch, trinken Filterkaffee und essen trockenes Brot; Willkommen, steht auf der Matte, die vom Klatschblatt versteckt wird.

(....)

2.
Die Mutter

Die Mutter ist mit achtzehn von Zuhause ausgezogen und mit neunzehn schwanger wieder auf der Hausmatte gestanden. Ich persönlich erinnere mich natürlich nicht daran.

Die Mutter, wenn sie die Zähne putzt, lässt das Wasser laufen, was auf die Lebzeit gerechnet ein Schwimmbecken füllen würde. Sie ist nicht flexibel; wenn man sie darauf anspricht.

Die Mutter hatte schon immer Haustiere, ist der Meinung ein Mensch müsse lernen sich dem Urteil der Hunde zu stellen. Als erstes hatte sie zwei Katzen; eine wurde zur Oma gebracht, aus Geschwisterhass.

Die Mutter erlaubte keinen Zutritt zu ihrem Schlafzimmer, und doch gab es jeden Tag ein kleines Fenster in dem die Tür offen stand. Es war irgendwann zwischen der ersten und vierten Zigarette, meistens, wenn das Red Bull noch voll war.

Es schien immer so, als wär die Mutter keine Mutter sonder ein Archetyp, und doch brachte sie eine Schärfe in ihrem Sein; dass ich bis heute nicht daran zweifle, sie wüsste wie man Krieg führt.

Der erste Mann an der Seite meiner Mutter benannte später sein Kind nach dem Namen des Kindes seiner ersten großen Liebe. Die Mutter hat ihm das nie übel genommen, während ihr Kind nach der Oma benannt war. Sie muss sich ihren Einflusses bewusst gewesen sein.

Die Mutter wirkte auf mich immer sehr einschüchternd und später sollte ich darin bestätigt werden dadruch dass ich ich viele Charaktere traf, die die Mutter ebenfalls als einschüchterns beschrieben. 

Die Mutter ist Kindergärtnerin, und wenn die Oma über die Mutter spricht, dann zitiert sie eigentlich nur eine Sache: Den Kindergarten wollte die Mutter nie verlassen und genau so ist es im Endeffekt auch gekommen. Sie sitzt immernoch auf viel zu kleinen Stühlen und isst von ebenso kleinen Tellern; trinkt aus winzingen Gläsern. Sie isst Gemüse, auch die Kartoffeln der Oma; und ich denke, im Kindergarten beschwert sie sich nicht.

Einmal, da entschied die Mutter das Auto gegen den Baum zufahren, aber im Endeffekt war sie zu feige; hat das Auto lieber vor der Gartenlaube geparkt und eine Packung Tabletten gefuttert.

(....)

Die gelbe Familie, 2025
18.000 words, German
121 pages, 9.5 x 14 cm 
novel