Leseprobe (reading sample)
Die Großmutter ist Zigeunerin und nichts hasst sie mehr als die Zigeuner.
Eine Stimme erreicht man in der Opposition in meinen Augen nur durch Akademie.
Oder durch Literatur.
Ah da sind sie ja die Vögel.
1.
Die Oma
Die Oma ist konstant auf Diät, und isst eigentlich nur ungesalzene Kartoffeln.
Für die Oma macht das Sinn so.
Während sie ihre Erdäpfel wäscht, erzählt die Oma meistens davon, dass ihre Schwester, die Marianne, sie aufgezogen hat.
Wir wissen alle, dass das so nicht stimmen kann; man hat die Schwester eingezogen als die Oma noch nicht mal eins war.
Die Oma mag auch Tomaten.
Sträucher gabs überall an der Ostfront.
Die Marianne spricht von Schlesien wenn sie mal vom klein sein erzählt; dabei ist sie die Zeit ihrer Kindheit nach Ungarn gelaufen. Sie hätte Dichterin sein können; eine Närrin. Ein Tomatenfeld, dazwischen: Blut, Eisen, Erde.
Als die Marianne ihre Periode bekommen hat stehen die Russen drin.
Also rennt sie am Arm der hochschwangeren Mutter ein weiteres Mal durch Europa. Auf dem Weg wird die Oma geboren und zum Kriegsende steht dann das ganze Pack vor der neuen deutschen Grenze; die Mutter von der Oma mit dem Ehemann, drei Großeltern (zwei von der Mutter, einer vom Mann), sechs Kinder.
Das Größte hat man ihr abgenommen und dem Rest, im Austausch, die Baracke gegeben.
Die Form der Baracke ist viereckig; einen halben Raum für fünf Schwestern; einen halben für fünf Erwachsene. Davor waren es mehr, hat mal irgendwer gesagt, zwei Drittel des Regimes verbrachte die Mutter der Oma schwanger. Ihr Leben war ein Loch in der Wand, durch das Kinder krochen.
Der Bruder Rudolf ist auf der Deutschlandreise umgekommen, soweit weiß die Oma das, irgendwer anders schon davor, Stillschweigen, eine ist krank geworden. Nach der Oma gab es kein weiteres.
Stillschweigen.
Die Marianne hatte man in einen Münchener Hof gesteckt.
Später kam sie an ein Grundstück in der Mondscheinsiedlung, hat sich ein Häuschen und ein Zweites gebaut. Närrisch war sie nie. In Oma‘s Verständnis ist die Schwester eine edle Dame, eine Frau zu der man aufblickt. Die Marianne ist als reiche Frau gestorben.
Manchmal besuchten wir sie in ihrem Allacher Appartement, es gab jedes Mal Nudeln mit Päckchensoßen. Sie servierte nie Nachtisch aber literweise Filterkaffee.
Die Schwester wurde 93.
Die beiden, die Oma und die Marianne, hatten sich eine Routine erarbeitet an die sie sich hielten auch wenn sie sich praktisch nie sahen: erst gab es Schmetterlingnudeln, dann wurde am klapprigen Esstisch Kaffeesahne und Süßstoff in die Tassen gekippt bis die Arme wackelten. Der Tisch steht bei der Marianne im Flur, in einer ganz seltsamen Ecke ohne Tageslicht, obwohl in der Küche genug Platz wäre.
Da am Tisch reden die Schwestern von zu hohem Blutdruck; von den missratenen Söhnen (bezogen auf die Oma) ... dem Lorbeerkranz, dass Süßstoff keine Kalorien hat, zum Glück, dass die Tomaten schon wieder zu früh blühen; reden von der Kathie. Ein ewig gleiches Duett aus unterschiedlich gefärbten Tanzschritten.
Jetzt, wo die Marianne tot ist, hat die Oma nur noch die Kathie, aber die Kathie ist ständig mit dem Jürgen beschäftigt, hat, wenn überhaupt, Zeit für einen Telefonanruf.
Die Oma hält nichts vom Jürgen; sagt er sitze nur faul auf der Tasche seiner Frau. Dabei kocht er, hat Humor; lebt noch. Der Jürgen hat nie getrunken und darum bleibt die Kathie bei ihm. Puzzelt, wenn es sein muss. Die Oma findet das alles lächerlich, aber jetzt hören die Ohren von der Marianne sie nicht mehr und zu wem anderes sagen tut sie nicht.
Die Oma besuchte die Marianne, nie aber die Kathie, und die Kathie besuchte die Oma mit dem Jürgen nie aber der Marianne, das war schon immer so, obwohl die Kathie nur zehn Minuten von der Marianne entfernt wohnte.
Die Kathie arbeitet noch; obwohl sie schon 84 ist. Auch davon hält die Oma nichts.
Als der Opa noch lebte, fuhren die Großeltern mit dem alten Mercedes nach München, später, als der Opa tot war, nahm die Oma den Zug. Heute, wenn überhaupt, fährt die Enkelin der Kathie sie und ihrem Mann in den Süden, lädt die beiden bei der Oma ab für einen Nachmittag. Der Oma ist das nicht zu viel, aber sie tut so als wäre es das, damit die beiden nicht zu lange bleiben.
Wenn sie mit der Kathie telefoniert, sagt die Oma nur „Aha“ und „Ja, ja“. Den Rest denkt sie leise. Der Oma ist alles zuwider, was weich und organisiert ist.
Die Marianne hat der Oma nach ihrem Tod nichts vermacht.
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Die Oma geht gerne Pilze suchen, weil das für sie heißt in den Forst zu fahren und dort die Grenzen der Baracke abzulaufen. Heute ist da nicht mehr viel, außer den Resten eines Brunnens im Sonnenausschnitt des Waldes. Wenn man am linken Eck der Wiese steht und auf die vermoosten Ziegelsteine schaut, liegen ihre Großeltern irgendwo hinter dem Wasserloch. Die Mutter dagegen haben sie woanders eingegraben, die Oma erinnert sich aber nicht wo.
Als Kind hat das alles für mich keinen Sinn gemacht, und als Erwachsene bin ich nie wieder dort gewesen.
Die Oma ist seit zwanzig Jahren überzeugt, dass es bald unmöglich ist Pilze zu finden, und es werden tatsächlich weniger. Wir änderten dennoch nie die Suchstelle; an jedem anderen Ort hätte die nicht vorhandene Baracke gefehlt. Irgendwann fanden wir einfach nichts mehr. Wenn wir mit leeren Händen ins Auto stiegen; fuhren wir stattdessen zum Supermarkt.
Der Opa hat ihre Pilzsuppen nie gegessen, hat gesagt die Oma würde ihn damit nur vergiften. Ich habs daran nie gezweifelt und mich trotzdem immer für meinen Teller bedankt.
Es machte die Oma nicht weniger furchteinflößend, dass sie ihre Kleidung in der Kinderabteilung kauft.
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Die Oma war schon einmal verheiratet.
Der Pole verschwand Mitte der Sechziger als die Oma 21 Jahre alt war und hinterließ ihr drei schwarzhaarige Söhne, zwei, drei und vier Jahre alt. Wir vermuteten, jemand hätte ihm etwas in den Schnaps getan. Er ließ der Oma keinen Pfenning zurück.
Die Oma fing deshalb an in einer Handschuhfabrik zu arbeiten, hat dort das Nähen gelernt.
Vor zwei Jahren dann die Benachrichtigung: Der Pole tot in Polen.
Die Oma hat ihn offenbar doch nicht vergiftet. Sie hat aber auch sonst nicht viele Worte verloren. Der Osten steckt ihr in den Fingerkuppen, und wenn sie an die Deutschen denkt, denkt die Oma leise.
Die drei Jungen vom Polen tragen seinen Namen, die Oma hat den Namen des Opas angenommen.
Die Oma sagt nicht, wie sie den Opa kennengelernt hat, zumindest nicht zu mir, sagt stattdessen, sie habe es vergessen. Vielleicht hat sie sich selbst aber auch einfach nur eingedeutscht.
Stillschweigen.
Anfang der Siebziger sind die beiden jedenfalls verheiratet und die Oma hört wieder auf mit dem Arbeiten, bekam noch ein Kind und kümmerte sich fortan hauptberuflich um die Segmentierung der Päckchensaucen.
Die Achtziger verbringt die Oma in der Gartenlaube; in den Neunzigern können sie sich einen kleinen Holzverschlag mit Pappdach darauf leisten. Irgendwann kommt das Klo und später die Küche; der Pavillon. Meine Kindheit findet seitdem hauptsächlich dort statt.
Das Gewächshaus ist Oma‘s ganzer Stolz.
Jedes Jahr zieht sie so fünf Gurken, zehn Kartoffeln, zwei, drei Kilo Tomaten.
Jedes Jahr fällt der Salat den Schnecken zum Opfer.
Die Oma unterfüttert seit Jahren die Erde mit so viel Schneckengift, dass niemand mehr ihr Gemüse essen mag, deshalb gibt sie es der Nachbarin, ihrer Freundin.
Die Irmi wohnt auf der anderen Seite des Spielplatzes, auf selber Höhe, und wenn die beiden streiten bleibt das Licht in der Küche der Oma ausgeschalten, damit die Irmi nicht sieht, dass sie zuhause ist.
Wenn die beiden sich verstehen, stehen sie am Fenster und reden über das Telefon, versuchen sich in der Ferne zu erkennen.
Die Irmi ist starke Raucherin, deshalb hat sie sich ihren Schuppen ausgebaut, dort ist auch die Oma wenn sie nicht ins Gartenhaus fährt.
Der Rudi, die Irmi und die Gerlinde lieben Smirnow und deshalb haben sie sich eine Lichterkette in den Schuppen gehängt, weil da lässt es sich wenigstens lauter trinken als in der Mietwohnung ohne Heizung. Irgendwann haben sie mit Pappe die Wände isoliert, jetzt ist der Schuppen auch im Winter ein Treff.
Die Oma hat jung mit dem Rauchen aufgehört; trinkt kaum Alkohol, dem Blutzucker wegen, in ihrem Kühlschrank steht trotzdem immer Bier und in der Schublade sind Zigaretten und ein Aschenbecher.
Zum Geburtstag gibt die Oma alles aus was abhängig macht; und hält dabei nichts von Altersbeschränkung, bietet Kindern Kippen an.
Jeden Sommer wird auf den Plastikstühlen der Gartenlaube gefeiert, kastenweise. Den Kindern gibt man Leitungswasser und deshalb ist da kein alkoholfreies Getränk in keinem der beiden Kühlschränke.
So ganz genau weiß die Oma nicht an welchem Tag sie geboren wurde, aber ihre Mutter hat für sie den 13. August gewählt, einen Freitag.
Später einmal, mit fast achtzig, sind die Oma und die Marianne nach Ungarn gefahren um die Geburtsurkunde abzuholen und es stellte sich heraus, auch das ungarische Einwohnermeldeamt datierte eben jenen Tag.
Die Mutter der Oma ist entschuldigt.
Zum Geburtstagstisch treten jedes Jahr die selben Leute mit unterschiedlichen Anhängseln; es füllt sich bis die Parkplätze vor der Laube voll sind.
Am Ende der Nacht sind immer alle Autos weg.
Es kommen immer die drei Söhne mit den zwei Ehefrauen, die vier Kinder der beiden Paare, die Schwägerin der einen mit Mann und zwei Söhnen, der Rudi, die Irmi, die Gerlinde.
Der Opa, die Mutter und ich.
Es sind immer zwischen vier und sieben Hunde anwesend; zwei davon extrem aufdringlich. Als ich in die Pubertät komme, sind die beiden tot.
Armut findet zwangsläufig im Amphitheater oder im Schuhkarton stattfindet; und als Nebenrollen gibt es wechselnde Freundinnen / Partnerinnen / Geschäftspartnerinnen / Dubiositäten.
Der Antrieb zum Erscheinen liegt irgendwo zwischen impliziter Normsetzung und Durst.
Die Durstigsten kommen deshalb bereits Mittags und schauen der Oma beim Wammerl würzen zu, darunter vor seinem Tod der Opa und seitdem der jüngste Sohn der Oma, die Zigaretten kauft sie hauptsächlich für ihn.
Der Sohn der Oma ist zehn Jahre älter als ihre älteste Tochter.
Gleiche Leute tun gleiche Dinge an wiederkehrenden Daten und so ist jedes Jahr mit Sicherheit abzusehen, dass ein Drama und keine Operette stattfinden wird, untermalt mit den immer gleichen Paradigmen Tod, Geld, Gewalt.
Die Frage ist nicht ob, sondern wie viel dafür getrunken werden muss und von wem.
In der Regel trifft es den jüngsten Sohn der Oma, oder den Sohn des ältesten Onkels; zwei, drei Jahre ist allerdings der Cousin im Fokus, der vom Dritten, dem Mittleren, rausgeschmissen wurde und bei den Großeltern eingezogen ist. Er hat sich im Zimmer direkt hinter der Eingangstür rechts eingerichtet.
Es gibt keinen Geburtstag, an dem es bis zur Dunkelheit gedauert bis einer das schreien anfängt.
Nach dem Schreien kam nicht immer das Schlagen; und geschlagen wurde auch nur wer sich nicht wehren konnte. Und wenn sich alle wehrten, dann wurde der Frust an den Frauen ausgelassen. Wer foltern will braucht ein Opfer. Einmal passierte es, dass die Hand der einen so lange am Grill hing, bis sie zu riechen anfing.
Das war aber keine, der mit uns verwandt ist.
Wenn die Ehefrauen ebenfalls tranken, wurde die Mutter zur Zielscheibe.
Die Geburtstage der Oma bildeten die Rangordnung; und normalerweise war es der mittlere Onkel, der die Position hielt; die Mutter im Gegenzug hätte darauf nie eine Chance gehabt.
Wenn ich der Mutter nicht mehr zusehen wollte wie sie vor den Augen zerhackt wurde, bin ich in den Wald gegangen und habe dort auf einem Baum gesessen und auf das Industriegebiet geschaut.
Als Erwachsene denke ich, das muss den Hauptteil meiner Kindheit ausgemacht haben.
Irgendwann hatte ich an den Baum vier Bretter mit je fünf Nägeln befestigt, was das klettern erleichterte. Ich habe mich immer gefragt ob die Mutter heimlich weinte.
Ich war immer rechtzeitig zum Essen.
Für mich grillte der Opa Nürnberger Rostbratwürstchen. Kennen Sie Kartoffelsalat?
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Als ich klein war vermied ich jede Konversation mit der Großmutter, was ich mir von der Mutter abgeschaut hatte. Die Oma sagte immer zu allem nein, alles war limitiert und jeden Dienstag gab es das selbe Essen.
Als der Cousin bei ihr wohnte, wurde meine Fernsehzeit limitiert, der einzige Grund warum ich mich mit ihr unterhalten wollte.
Die Oma war mit ihm noch strenger als mit mir, ständig hat sie ihn herumgeschickt; gemaßregelt, malträtiert. Das gleiche tat sie mit ihrem Ehemann. Es schien ihm nicht zu entgehen und doch trat er ihr nie wütend gegenüber.
Mich hat das als Kind fasziniert.
Die Oma besitzt zwar einen eigenen Geldbeutel, den benutzt sie aber erst seit der Opa erstickte.
Seit sie den Geldbeutel nicht nur besitzt sonder auch benutzt, ist die Oma deutlich ärmer, als sie sich immer schmückte.
Wenn die Oma zum Essen einlädt ist das Trinkgeld nicht mehr als 20 Cent und es ist gleich wie viel das Essen gekostet hat. Die Oma argumentiert das immer mit der allgegenwärtigen Beschaffenheit des Kellners.
Die Oma kann danke sagen; bitte ist ihr aber ein Fremdwort.
Für die Oma ist Geld die einzige Ausdrucksform des Geistes und fortgleich ist das zu schön gesagt, sie selbst würde den Satz nicht verstehen.
Lang haben die Mutter und ich geglaubt, die Oma wäre Analphabetin und könne nur ihren eigenen Namen schreiben, obwohl wir uns beide an sie mit dem Zeitungspapier und der Hand erinnern.
Seit die Oma alleine ist, schreibt sie Geburtstagskarten selbst.
Die Großeltern lesen Zeitung, damit jeden Morgen für die Nachbarn sichtbar die Zeitung auf der Wohnungsmatte liegt.
Das Klatschblatt mit den nackten Frauen auf der Rückseite wurde immer falsch herum auf die Hausmatte gelegt und vom weniger schamvollen Lokaljornal überdeckt platziert.
Keine Aufschrift auf der Fußmatte, nur manchmal saß die Katze drauf.
Die Oma schaute die Gesellschaftsbilder der Lokalzeitung durch, der Opa las den Fußballteil und verharrte ewig auf den Tittenbilder, dann wurde Zeitung getauscht.
Die Oma wohnt auch heute noch in dieser Wohnung, bestellt aber keine Zeitung mehr, weil sie sagt, die Anzeigen der Stadt täten es genauso.
Die Oma ist geizig; mit sich selbst, mit anderen.
Ich habe sie noch nie tanzen sehen.
Die Mutter hasste ihre Mutter; und so wurden sie und ich irgendwie zu Schwestern. Ich erinnere mich nicht an das Zusammenleben mit dem Großeltern, aber später umrundeten wir die Wohnung der Oma, und deshalb war ich bis zur Mittelstufe jeden Tag dort.
Die Oma war nie wirklich nett zu Tieren; hat Angst vor Hunden und vor Pferden. Die Oma hat nur einen Hund gemocht, die Trixi, die ist aber schon lange gestorben.
Wir haben uns oft Fotos angeschaut, währen die rote Katze neben der Oma nach Liebe geschrien hat.
2.
Die Mutter
Die Mama hat sich die meiste Zeit ihres Lebens aller größte Mühe gegeben, nicht so zu werden wie die Oma, bis sie dann doch einmal so geworden ist.
Und das noch bevor sie fünfzig wurde.
In der Linie der Mama war es ein kurzer Erfolg alleine zu leben, und so ist sie schwanger mit Anfang Zwanzig wieder bei den Eltern untergekrochen, hat sich in eben rechtem Zimmer eingeschlichen.
Irgendwann, mit drei oder so, hats gereicht zwischen der Mama und der Oma. Wir sind ins Haus gegenüber gezogen, haben die eine Katze mitgenommen.
Am Tag unseres Einzuges verbot uns unsere Nachbarin von unten die Toilette in der Nacht zu benutzen; und wenn es die Mama doch einmal tat, klopfte die alte Frau mit dem Besen an die Decke.
In der Wohnung hatte ich mein eigenes Zimmer und zum Schlafzimmer keinen Zutritt.
Das war neu.
Die Mama hat es immer mit dem fehlenden Balkon, ergo dem Rauchen, erklärt.
Manchmal, am Morgen, hab ich mich trotzdem rein geschlichen.
Die Mama hat dann immer schon aufrecht in ihrem Bett gesessen, um sie rum drapiert der Nebel und das Sonnenlicht; ich habe daraus geschlossen, dass sie generell nicht schläft.
Sie hat immer in der Mitte des Bettes gesessen, weil es ganz ihres war, in ihrem Morgenmantel der an den Armen und am Kragen mit blauen Federn verziert war; in der einen Hand hielt sie eine Zigarette und in der anderen ein Buch. Ich habe sie immer für eine Literatin gehalten.
Auf dem Nachttisch stand jeden Morgen ein Red Bull, als Erwachsene denke ich, sie muss es unter dem Bett gelagert haben.
Manchmal schickte sie mich nicht weg und machte stattdessen Platz, rutschte ein wenig nach links; dann lagen wir für eine Weile dort auf dem Bett, haben der Reflexion der Discokugel zugeschaut, über Elstern gesprochen.
Auf der Kommode stand ein Radio; auch in der Küche und im Badezimmer gab es eins; Schall erklärte ihr die Morgen.
Die Mama ist schon immer großer Freddy Mercury Fan gewesen zwischen den Wänden der Wohnung hat sich die Mama tanzend bewegt. Alles war gelb, die Möbel, das Sonnenlicht, die Teppiche, friedlich.
Irgendwann ist ihr Freund Robert bei uns eingezogen, hat seine blaue Couch mitgebracht und die Mama ist permanent auf die linke Seite des Bettes gezogen.
Die Oma schaut zufrieden auf den Fotos auf denen auch der Robert ist.
Dann gab es den Robert nicht mehr, vielleicht als ich sechs war, deshalb sind wir umgezogen.
Die Mama hat gesagt, dass es an der Miete lag.
Als wir auszogen, hat die Mama angefangen ihren Zoo auszubauen.
Die Katze gab es vor mir, die Fische kamen in der ersten Wohnung; über die Jahre kamen Mäuse, Vögel, weitere Katzen und Hunde dazu.
Irgendwann hat sie sich mal einen Wolf eingebildet, dann aber keinen finden können und sich stattdessen einen Hund aus dem Tierschutz geholt.
Der Hund wurde nach wenigen Jahren eingeschläfert; eine der Katzen erhing sich im gekippten Fenster.
Beschuldigungen.
Wir sind in das große Mehrfamilienhaus gezogen und später im Komplex mehrmals umgesiedelt; alle Wohnungen hatten einen kleinen Balkon die mit vergilbten, teils zerbrochenen Fronten gehalten wurden.
Als wir die strichen sind die Wände beim Klebebandabziehen abgefallen; wir haben es so gelassen und Bilder darüber gehängt.
Die erste Wohnung war im Erdgeschoss und irgendwann hat die Mama ein vierzig Zentimeter tiefes Loch in die Außenwand gebohrt damit die Katze eine eigene Eingangstür hat.
Die Löcher hat sie nicht in alle Wohnungen geschlagen.
Auch gestrichen haben wir nicht mehr; keine Muster, kein Gelb.
Manchmal war mein Zimmer größer, manchmal nach Norden. In der dritten Wohnung bekamen wir einen Computer; den alten vom großen Bruder der Mama.
Gleich zu Beginn fiel die Mutter in eine Solitärabhängigkeit und ist auch heute noch spielsüchtig, hat aber immerhin irgendwann das Rauchen aufgegeben.
Männer gab und gab es nicht in diesen Wohnungen.
Manchmal hörte ich sie aus dem Wohnzimmer so überschwänglich lachen, dass ich das Zweifeln begann ob sie alleine war.
Ich glaube dem Sandmann und habe mein Zimmer nie verlassen.
Manchmal war da ihre Freundin um auf mich aufzupassen und ich zweifelte ob sie je zurück kommen würde.
Beschuldigungen.
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Als ich klein war lange hatte die Mama lange blonde Locken, die ihr Gesicht wie eine Löwin umrandeten.
Sie hat das Haus nie ohne Haare toupieren verlassen.
Die Mama trug immer drei verschiedene Parfüme gleichzeitig, weil ihr das sonst nicht komplex genug war. Sie sagte es nicht, aber man konnte es ihrem Gesicht entnehmen.
Gemischt mit dem Geruch von Haarspray und Zigaretten roch es nach dem Hinterzimmer eines Kaufhauses.
Als ich Zeit verstand, wurde die Mama dreißig.
Wir waren spät zu ihrem Geburstag; wir waren immer spät, und die Mama kassierte einen Strafzettel; was nur einer von vielen war.
Später einmal würde sie die Post nicht mehr öffnen.
Der Geburtstag wurde im Gartenhaus gefeiert, das war aber nicht üblich.
Ich erinnere mich daran, dass sie alle angesehen haben, daran, dass ich dachte sie sei berühmt als das Sonnenlicht auf ihre Haare und ihre eng anliegendes Kleid fiel.
Die anderen haben es auch gesehen.
Die Mama ist ein gelber Mensch.
Die Mama ist Kindergärtnerin, und die Oma sagt immer, dass die Mama schon als Kind felsenfest davon überzeugt war, den Kindergarten nie zu verlassen.
Und darum arbeitet sie heute dort.
Ihre Brüder machen sich seit Beginn darüber lustig, sagen, mit Kinder spielen sei kein Beruf.
Es ist nur ein der vielen Themen über die sie sich lustig machen, wenn sie an die Mama denken.
Als sie dreißig wurde, hat niemand Witze gemacht.
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